

Rüdiger R. Sellin
Bahnstromsysteme in Europa
Bei Eisenbahnen stellte sich die Frage, ob man Gleichstrom oder Wechselstrom verwendet. Dabei ist es bis heute keinesfalls so, dass im «Eisenbahnland Schweiz» überall mit demselben Stromsystem gefahren würde. Besonders beim Übergang vom einen zum anderen Netz stellen sich betriebliche Herausforderungen.
Im Vergleich zu den öffentlichen Stromnetzen herrscht bei den Bahngesellschaften ähnlich wie in der Politik leider keine europäische Einigkeit, insbesondere wenn es um die verwendeten Stromsysteme geht. Dies ist der Geschichte vor über 150 Jahren geschuldet, wo privat finanzierte Bahngesellschaften zunächst kleine Inselnetze bauten und mit Dampfloks betrieben – oft noch mit unterschiedlichen Spurweiten, von denen es weltweit bis heute etwa elf verschiedene gibt. Am weitesten verbreitet sind die Normalspur (1440 mm) sowie die Meterspur, welche auch von den meisten Tramlinien verwendet wird. In Europa kamen in Russland und Spanien, aber auch in Irland unterschiedliche Breitspuren zum Einsatz. Als die Netze schnell ausgebaut wurden und zusammenwuchsen, mussten viele Strecken jedoch umgespurt werden, so auch grössere Teile der Badischen Hauptbahn, deren Hauptstrecke bis nach Basel führte und zunächst in 1600 mm Breitspur entstand.
Diese Strecke wurde bereits 1854/1855 auf Normalspur umgebaut, weil durchgehende Güter an den Bahnhöfen mit zwei Spurweiten jeweils zeit- und kräfteraubend umgeladen werden mussten. Der Umbau umfasste sagenhafte 203 km zweigleisige und 79 km eingleisige Strecken sowie alle vorhandenen 66 Lokomotiven und 1133 Wagen, was mit den damaligen Werkzeugen und technischen Möglichkeiten für einen Zeitraum von nur zwei Jahren eine Meisterleistung darstellt, andererseits aber auch den äusseren Druck reflektiert. Dank Wegfall der Breitspur waren fortan grenzüberschreitende Güterwagenläufe möglich, wovon heute ein durchgehender Güterverkehr etwa von Rotterdam nach Genua, aber auch der massenhafte Personenverkehr von Nord nach Süd täglich profitiert.
Bahnpionier aus Bern
Bei den Bahnstromsystemen war das Spektrum deutlich breiter. Wichtige Teilstrecken (Süd-)Deutschlands, grössere Teile Österreichs und praktisch die ganze Schweiz wurden ab dem 19. Jahrhundert elektrifiziert. Pionier hierzulande war die Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS), welche ihre Linien ab 1906 schrittweise elektrifizierte. Die 1902 gegründeten Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) folgten später, zunächst am Gotthard, dann recht zügig auf den meisten anderen Hauptlinien und später auch auf den Nebenbahnen, die vielerorts jedoch in der Hand kleinerer, lokaler Bahngesellschaften standen und stehen. Nach intensiven Betriebsversuchen entschieden sich BLS und SBB für AC-basierte Bahnstromsysteme und bauten entsprechende Wasserkraftwerke, die fast alle noch heute in Betrieb und etwa am Gotthard entlang der alten Bergstrecke gut sichtbar sind – schön anzusehende Denkmäler der Technik.
1888 nahm das erste elektrische Schienenverkehrsfahrzeug in der Schweiz im Regelbetrieb seinen Betrieb auf. Es transportierte die Touristen von Vevey über Montreux zum Schloss Chillon. Auf der offenen Dachplattform liess sich die Aussicht über den Lac Léman ohne Gestank und Rauch geniessen. Seit 1913 fuhr die BLS mit dem von der schweizerischen Studienkommission favorisierten Einphasenwechselstrom mit 15 kV Netzspannung und 16 2/3 Hz Netzfrequenz. Im selben Jahr starteten die SBB mit der Elektrifizierung der Strecke Erstfeld–Bellinzona, die ab dem Herbst 1920 den Einsatz völlig neu konstruierter, elektrisch angetriebener Güterzugslokomotiven wie dem legendären «Krokodil» erlaubte. Von dieser entstanden in zwei Serien ab 1919 insgesamt 33 Exemplare.
Auch vor 100 Jahren bekannt: «Knapp bei Kohle»
Hauptantriebskraft für die schnelle Elektrifizierung waren neben dem Tourismusboom vor und nach dem 1. Weltkrieg sowie der Kohleknappheit zu dieser Zeit der befürchtete und dann auch eingetretene 2. Weltkrieg, bei dem die Schweiz sich autonom mit Strom versorgen wollte – notabene auch für Truppen- und Materialtransporte. Bei Kohlelieferungen zum Betrieb ihrer schweren, nur wenig leistungsfähigen und zudem umweltschädlichen Dampfloks wäre die Schweiz weiterhin auf Deutschland oder Frankreich angewiesen gewesen.
Der Plan ging auf: 1939, also noch vor Beginn des 2. Weltkriegs, wurden 74 % aller SBB-Strecken und 93 % des schweizerischen Schienenverkehrs elektrisch betrieben. Damit war die Schweiz Europameister und so zeigte die SBB 1939 an der berühmten «Landi»-Ausstellung in Zürich neben ihren populären «Roten Pfeilen» auch ihre mächtige Doppellok Ae 8/14 für den Gotthard. Die damals weltstärkste Elektrolok war über 34 m lang, wog 235,7 t und brillierte mit einer Stundenleistung von 8162 kW bei einer Dauerleistung von 7647 kW, womit die «Landi» zu einer beeindruckenden Leistungsschau der SBB und ihren liefernden Herstellerfirmen wurde. Diese hatten in den Jahren 1931 und 1932 bereits zwei Doppelloks als Ae-8/14-Vorgänger mit den Nummern 11801 und 11851 geliefert.
Bei den «Roten Pfeilen» gab es viele Einzel- und wenige Doppeltriebwagen, welche auch wegen der beengten Platzverhältnisse im Motorraum an der Zugspitze nicht sonderlich steigungsfähig, aber relativ leicht und in der Ebene dank ihrer aerodynamisch günstigen Form für damalige Verhältnisse sehr schnell waren und zudem wartungsfreundlich konzipiert wurden. Auch sie liefen ausschliesslich mit Einphasenwechselstrom bei einer Betriebsspannung von 15 kV und einer Netzfrequenz von 16 2/3 Hz.
Seit der Frühzeit elektrisch betriebener Eisenbahnen besteht eine Vielfalt von Stromsystemen. Heute nutzen neben der Schweiz nur Deutschland, Österreich, Norwegen und Schweden in ihren Bahnnetzen Wechselstrom (kurz AC, Symbol ~) mit einer Netzspannung von 15 kV und einer Netzfrequenz von 16,7 Hz. In Italien, Polen oder Spanien fahren die Züge hingegen mit Gleichstrom (kurz DC, Symbol =) bei einer Netzspannung von 3 kV, während eine grosse Anzahl von Ländern wie z. B. Portugal, Dänemark, Grossbritannien (ohne irische Insel und Schottland) und Südosteuropa AC ihre Bahnstromnetze mit einer Netzspannung von 25 kV bei 50 Hz betreiben. Dies trifft auch auf Nordfrankreich zu, während Südfrankreich wie auch die Niederlande DC mit einer Netzspannung von 1,5 kV nutzen und Mittelfrankreich zwangsläufig beide Stromsysteme unterstützen muss.
Wildwuchs bei den Bahnstromsystemen
Aus diesem historisch gewachsenen Stromsystemchaos resultieren bis zum heutigen Tag Inkompatibilitäten und ein grosser betrieblicher Mehraufwand, weil länderübergreifende Züge mehrere Stromsysteme unterstützen müssen und Lokwechsel nötig sind. Dies führt seit Jahrzehnten immer wieder zu technischen Problemen. Ein Pionier zu deren Umgehung war der Mehrsystemzug Gottardo der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Unter der Typenbezeichnung RAe TEE II entstanden zwischen 1961 und 1967 fünf elektrische Schnelltriebwagenzüge, die ab den 1960er Jahren auf verschiedenen TEE-Verbindungen eingesetzt wurden.
Bei einer Dienstmasse von 296 t erreichte der sechsteilige 1. Klasse-Zug eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h. Diese s.g. Vierstrom-Triebzüge waren für vier Stromsysteme ausgelegt und für die Schweiz, Italien, Frankreich, Luxemburg, Belgien, Niederlande und Deutschland ausgerüstet und zugelassen – für damalige Verhältnisse eine technische Meisterleistung. Der Zug mit der Nummer 1053 erhielt beim Umbau von 2003 bis 2009 wieder die originale TEE-Farbgebung (rot-creme) und wird seither von der SBB Historic mit Unterstützung eines Gönnervereins betrieben.
RhB mit Systemmix
Wenig bekannt ist, dass bei der schmalspurigen Rhätischen Bahn (RhB) im Kanton Graubünden nur das sogenannte Stammnetz mit Einphasenwechselstrom mit einer Spannung von 11 kV und einer Netzfrequenz von 16,7 Hz betrieben wird. Als 1942 die Chur-Arosa-Bahn und die Bellinzona-Mesocco-Bahn sowie 1943 später die Berninabahn in die RhB integriert wurden, waren zusätzlich drei verschiedene Gleichstromsysteme vorhanden. Dabei kamen zunächst folgende Gleichspannungen zum Einsatz:
Chur-Arosa-Bahn: ursprünglich 2,2 kV, später 2,4 kV
Bellinzona-Mesocco-Bahn: 1,5 kV
Berninabahn: 1908–1935 750 Volt, seit 1936 1 kV
Bereits 1945/46 prüfte die RhB den Umbau der Chur-Arosa-Bahn auf Einphasenwechselstrom mit einer Netzspannung von 11 kV, blieb aber wegen der damals ungenügenden Leistungsfähigkeit des Bahnstromnetzes im Raum Chur zunächst beim DC-Betrieb. Erst 1997 wurde die schöne Strecke nach Arosa auf AC-Betrieb umgestellt und kam damit zum Stammnetz. Auf der vom Stammnetz isolierten Strecke Bellinzona–Mesocco stellte die RhB den Bahnbetrieb auf Ende 2003 ein. Somit ist die Berninastrecke nach Tirano bis heute die letzte, nicht zum RhB-Stammnetz gehörende RhB-Linie – bis heute mit Gleichstrom bei einer Netzspannung von 1 kV. Im Bahnhof Pontresina besteht ein separates Gleis, das mit beiden Stromsystemen betrieben werden kann. Bis vor einigen Jahren wurden dort die Lokomotiven gewechselt.
Seit der Beschaffung des Zweisystem-Triebzugs Allegra (ABe 8/12) ist dies nicht mehr nötig. Der Allegra war das damals modernste Fahrzeug im RhB-Fahrzeugbestand und wurde 2009/2010 in 15 dreiteiligen Einheiten von Stadler Rail in Bussnang geliefert. Die schmalspurigen Triebzüge werden sowohl auf dem RhB-Stammnetz als auch auf der Berninabahn eingesetzt.
Sonderfall Montreux-Oberland-Bahn (MOB)
Wer von Spiez mit der BLS nach Zweisimmen fährt und weiter mit der MOB nach Montreux will, musste bis vor wenigen Jahren umsteigen. Jahrzehntelang träumte man unter dem Namen «Golden Pass» von durchgehenden Zügen ab Luzern bis nach Montreux, was heute ab Interlaken Realität ist. Dazu wurden Salonwagen beschafft, die auf zwei Spurweiten fahren können. Eine weitere technische Besonderheit ist die Umspuranlage im Bahnhof Zweisimmen. Sie sorgt seit Anfang Dezember 2022 dafür, dass die Waggons nach dem Halt in Zweisimmen in Richtung Montreux auf Meterspur sowie in Richtung Interlaken auf Normalspur fahren können. Wie von Insidern erwartet, gab es jedoch zahlreiche Kinderkrankheiten zu überstehen und Probleme zu lösen. So verursachten die neuen Waggons Schäden an der normalspurigen Gleisinfrastruktur der BLS, weshalb das System nach nur 80 Tagen wieder abgestellt wurde. Unterdessen soll es sich eingependelt haben und ist wieder in Betrieb.
Geblieben ist der Traktionswechsel in Zweisimmen, da sich die Loks nicht umspuren lassen und die beteiligten Bahngesellschaften BLS und MOB verschiedene Stromsysteme unterstützen. Während die BLS wie die SBB auf Wechselstrom mit einer Fahrleitungsspannung von 15 kV und einer Netzfrequenz von 16,7 Hz setzt, nutzt die MOB ein Gleichstromsystem mit einer Fahrleitungsspannung von 900 V.
«AC oder DC» ist somit auch bei den Eisenbahnen eine bis heute zentrale Frage.